Denkraum.

Theater & Philosophie

Theater und Philosophie beschäftigen sich mit existentiellen Fragen des Menschseins. Und beide leben vom intensiven Austausch – ob eher emotional im ästhetischen Geschehen zwischen Bühne und Publikum oder eher diskursiv im argumentativen Dialog zwischen Gesprächspartner:innen. Mit dem Denkraum startet eine neue Reihe am Theater Oberhausen.

Prof. Dr. Eva Weber-Guskar ist Inhaberin des Lehrstuhls für Ethik und Philosophie der Emotionen an der Ruhr-Universität Bochum. Sie konzipiert, kuratiert und moderiert die Reihe Denkraum. Theater & Philosophie für das Theater Oberhausen. Sie reflektiert mit eingeladenen Philosoph:innen Themen des Stücks, indem philosophische Aspekte hervorgehoben und vertieft werden und lädt zum gemeinsamen Diskutieren ein. In ihrer Forschung und Lehre engagiert sich Eva Weber-Guskar länger für die Vermittlung akademischer Philosophie in der Öffentlichkeit, u.a. mit journalistischen Beiträgen und als Gründungsmitglied des Internet-Portals philpublica.de.

In der ersten Ausgabe des Denkraums lud Eva Weber-Guskar den Philosophen Prof. Dr. Jan Slaby (Freie Universität Berlin) ein, um laut über die philosophischen Themen der Produktion Zeit für Freude nachzudenken: Über das Verzeihen, das Verschwinden und die Zeitlichkeit von Emotionen. Eine weitere Veranstaltung zur Produktion Serenade für Nadja ist für Juni 2024 geplant.

Denkraum zur Produktion Zeit für Freude am 12.11.2023 in der Bar

Land der Gefühle.
Wie weit reichen unsere Emotionen?

Wie weit reicht das Land unserer Gefühle? Es sind fordernde Zeiten für ein Herz. Wir wissen, dass unser Griff ins Warenregal kraft Globalisierung weitreichende Folgen haben kann, bis hin zu menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen in Bangladesch, Kinderarbeit auf Plantagen in der Elfenbeinküste oder zur Abholzung des Regenwaldes in Brasilien. Mit dieser Ausweitung der Verantwortungszone im Raum haben unsere Schuld- und Mitgefühle Schritt zu halten. Dazu kommt eine Ausdehnung in der Zeit. Wir erfreuen uns heute nicht mehr einfach an Kunst, wenn bei ihrem Erwerb in der Vergangenheit Machtgefälle ausgenutzt wurden. Wir fragen uns, welche unbedachten Abwertungen in alten Worten enthalten sind, und suchen nach neuen, die nicht verletzen. Und wenn früher unsere Sorge für die Zukunft einfach persönlich bis zu Kindern und Enkelkindern reichte, so fordert das Verfassungsgericht von uns jetzt, allgemein die Freiheitsrechte späterer Generationen zu achten und uns das einiges kosten zu lassen. Selbsternannte „Longtermisten“, die die Bewegung des „effektiven Altruismus“ ausbauen, erwarten sogar, dass uns die zukünftige Menschheit in Milliarden von Jahren am Herzen liegen sollte. Zudem fühlen wir nicht nur mit anderen Menschen und Tieren mit, sondern auch für die Vegetation – und manche sogar mit Systemen künstlicher Intelligenz. Klima-Angst, ökologische Trauer oder Solastalgia, Sehnsucht nach Trost durch Landschaft, die zerstört wurde, greifen vor allem in der jungen Generation um sich.
Offenbar reichen unsere Gefühle sehr weit. Doch wie weit sollten sie reichen? Es ist ein erster wichtiger Schritt zu erkennen, dass diese Frage überhaupt sinnvoll ist – zumindest, wenn man sie für Emotionen stellt, einer Untergruppe von Gefühlen. Emotionen sind nicht einfach so da, dass sie entweder erlebt oder unterdrückt werden müssten. Emotionen wie Trauer, Furcht, Freude oder Wut sind auf etwas in der Welt bezogen und damit empfänglich für Gründe. Das unterscheidet sie von reinen Körperempfindungen wie einem Stechen im Bauch oder einem angenehmen Kribbeln einerseits, und nur ganz vage auf die ganze Welt bezogene Stimmungen wie Melancholie oder Euphorie andererseits. So können Emotionen angemessen oder unangemessen sein, je nachdem, ob ein Grund für sie vorliegt oder nicht. Im letzteren Fall ist es in der Regel ratsam, zu versuchen, sie abzumildern oder sogar zum Verschwinden zu bringen.
In der Philosophie der Emotionen wurde in den letzten Jahrzehnten intensiv diskutiert, unter welchen Umständen und auf welche Weisen Emotionen angemessen sind oder nicht: Wann also welche Art von Grund für sie vorliegt oder nicht – denn freilich funktionieren Gründe hier nicht ganz genauso wie bei Überzeugungen. Zunächst ist etwa Furcht, grob gesagt, nur da angemessen, wo es Gefahr gibt (was nicht heißt, dass sie nicht oft ohne Gefahr vorkommt – das ist eben der Punkt der Angemessenheit). Darüber hinaus kann es moralisch unangemessen sein, sich über einen Witz zu amüsieren, nämlich wenn er rassistisch ist. Und es mag angemessen sein, sich über die Verzögerungen, die Klima-Kleber im Autoverkehr erzwingen, zu ärgern – deswegen jedoch in rasende Wut zu geraten, ist mindestens aus der Klugheitsperspektive unangemessen. In dieser Debatte wurde das immer größere Ausgreifen unserer Emotionen in Raum und Zeit bisher erst wenig thematisiert.
Freilich können wir uns mit Emotionen frei in Zeit und Raum bewegen. Mit ihnen, wie mit Gedanken und Wünschen, übersteigen wir unsere körperliche Begrenztheit und zeitliche Endlichkeit. Aber angesichts der genannten Ausweitungsprozesse ist zu fragen, ob wir es auch immer sollten – vor allem bei negativen Emotionen, die uns leiden lassen. Ökologische Trauer ist sicher insofern angemessen, als die Welt zunehmend wertvolle Fauna und Flora verliert. Bezeichnend ist jedoch, dass es dabei einer einzelnen Person nicht nur etwa um den Wald und die Vögel in ihrer unmittelbaren Lebenswelt geht, sondern um allen Wald und alle Vögel und andere Tier- und Pflanzenarten in der Welt. Das unterscheidet eine ökologische Trauer von den meisten anderen Arten von Trauer, die wir kennen. Denn typischerweise trauern wir über den Verlust von jemand oder etwas in unserer konkreten Nähe. Es gilt als Standard von Emotionen, dass sie Wertungen von etwas enthalten, das uns persönlich betrifft. Anderenfalls sind eher etwas wie stellvertretende Emotionen angemessen. Eine stellvertretende Trauer wäre weniger intensiv, sodass sie nicht zu Apathie oder Depression führte, wie es bei ökologischer Trauer bisher nicht selten passiert. Wenn man alles weit Entfernte so sehr auf sich bezieht, dass persönliche Emotionen entstehen, entfalten sich, bildlich gesprochen, starke Zentrifugalkräfte. Das Selbst einer Person wird auseinandergezogen und droht im Extremfall, sich dadurch aufzulösen. Als körperlich und zeitlich fixierte Wesen können wir uns nicht gleichzeitig von allem Möglichen in Raum und Zeit in der gleichen Weise affizieren lassen – nicht ohne, dass verloren ginge, was es eigentlich heißt, dass einen „selbst“ etwas angeht. Genau das aber ist eine Voraussetzung für das, was wir unter Emotionen verstehen. Dadurch unterscheiden sie sich von Wert-Urteilen, die wir über alles Mögliche in der Welt fällen können und die keine phänomenale Qualität haben.
Selbstverständlich ist die Alternative nicht, sich völlig unberührbar zu machen für alles, was über den kleinen Kreis des individuellen Alltags hinausreicht. Aber es ist nicht unplausibel anzunehmen, dass es eine Grenze dahingehend gibt, wovon wir uns zeitlich und räumlich in angemessener Weise affizieren lassen sollten und können. Die Wucht der Gefühle würde sonst nicht nur drohen, uns mit negativen Empfindungen zu überfordern und emotionale Bedeutsamkeiten in unserer unmittelbaren Lebenswelt übersehen zu lassen, sondern auch, womöglich den Kern unserer Emotionalität selbst zu unterwandern.

Den Text Land der Gefühle. Wie weit reichen unsere Emotionen? schrieb Eva Weber-Guskar für das Spielzeitheft der Spielzeit 2023/24. Er steht auf den Seiten 50 und 51.